Schlagwort: Mikropoesie

  • Begriffsminiaturen

    Nach meiner Ankunft in Halle im Herbst 2024 Beginn einer Sammlung von Begriffsminiaturen. Besser: poetischer Schattenbegriffe. Oder auch leiser Exzesse. Ich weiß es nicht. Fortsetzung folgt fortlaufend. Vorgenommen. Zumindest.

    Umsturzsekunde
    Substantiv, Feminin [⟨gehoben, dramatisch⟩]
    1. Der Augenblick, in dem ein zunächst sanftes, sich ausdehnendes Begreifen plötzlich in sein Gegenteil umschlägt und zur harten, endgültigen Einsicht wird.
    2. übertragen: Ein Moment, der die Illusion von Wandlung und Weite abrupt beendet und durch eine nicht mehr verhandelbare Klarheit ersetzt.
    Beispiel: „In der Umsturzsekunde wurde aus seiner Hoffnung ein scharfes Verstehen.“

    Regenverzehrgenehmigung
    Substantiv, Femininum; Genitiv: -; Plural: -en [⟨poetisch, verspielt⟩]
    1. Innere Erlaubnis, beim Kaffeetrinken im Café mehr zu bestellen – nicht aus Hunger, sondern mit der Begründung, dass gleich der Regen einsetzt und man dadurch Zeit gewinnt.
    2. übertragen: Das stille Abkommen zwischen Himmel und Magen, dass Wolken den Appetit rechtfertigen – auch wenn sie sich am Ende oft verziehen.
    Beispiel: „Die Wolken hingen schwer, und ich erteilte mir selbst eine Regenverzehrgenehmigung: noch ein Stück Kuchen, während der Regen ausblieb – aus Respekt vor dem Regenbogen.“

    Echospiel
    Substantiv, Neutrum; Genitiv: -s, Plural: -e [⟨poetisch, intim⟩]
    1. Das Hin- und Herschicken von Sprachnachrichten, nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus der Lust, Stimme und Schweigen in ein Spiel zu verwandeln.
    2. übertragen: die Kunst, Nähe im Abstand entstehen zu lassen, indem jede Verzögerung wie ein Versprechen klingt.
    Beispiel: „Im Echospiel wurde das Warten selbst zum Teil der Verführung.“

    Löschklarheit
    Substantiv, Femininum; Genitiv: -, Plural: -en [⟨poetisch, melancholisch⟩]
    1. Der Moment bewusster Entscheidung, eine digitale Spur (Nachricht, Bild, Erinnerung) zu tilgen, in der Überzeugung, dass dies Befreiung bringt.
    2. Das unmittelbare oder verzögerte Bedauern über den unwiderruflichen Verlust dieser Spur, die eine emotionale oder existenzielle Bedeutung hatte.
    3. übertragen: Jeder Akt des absichtlichen Loslassens – von Menschen, Orten, Erinnerungen –, der von einer plötzlichen Sehnsucht nach dem Verlorenen begleitet wird.
    Beispiel: „Die Löschklarheit dauerte nur einen Moment: Die Nachricht war verschwunden, die Sehnsucht nach ihr begann sofort.“

    Buchraubrecht
    Substantiv, Neutrum [⟨poetisch, provokativ⟩]
    Die moralische Rechtfertigung, ein Buch zu stehlen, nicht aus Habgier, sondern aus dem Drang, sein Innerstes zu bewahren.
    Beispiel: „Im Buchraubrecht liegt die Überzeugung, dass ein entwendetes Werk nie wirklich gestohlen, sondern vor dem Vergessen gerettet wird.“

    Koffersehnsucht
    Substantiv, Femininum; Genitiv: -, Plural: -e [⟨poetisch, sehnsüchtig⟩]
    1. Das Packen eines Koffers mit dem gleichzeitigen Wunsch, ihn niemals zu tragen.
    2. übertragen: die Spannung zwischen Aufbruch und Bleiben.
    Beispiel: „In ihrer Koffersehnsucht war sie schon unterwegs und noch daheim.“

    Kofferlast
    Substantiv, Femininum; Genitiv: -, Plural: -en [⟨ironisch, alltagsnah⟩]
    1. Das Übermaß an Gepäck, das eine Reise schon vor dem Beginn beschwert.
    2. übertragen: die Spannung zwischen dem Versprechen von Freiheit und der Schwere des Mitgenommenen.
    Beispiel: „Die Kofferlast machte den Urlaub schwerer als den Alltag.“

    Flaschenabschied
    Substantiv, Maskulinum; Genitiv: -s, Plural: -e [⟨poetisch, elegisch⟩]
    1. Das Wegwerfen von leer getrunkenen Flaschen, die zuvor ein ganzer Abend waren.
    2. übertragen: das endgültige Loslassen einer Erinnerung, die nur noch als Hülle nachhallt.
    Beispiel: „Der Flaschenabschied klirrte noch, als er längst gegangen war.“

    Vorwortstarre
    Substantiv, Femininum; Genitiv: -, Plural: -n [⟨poetisch, existenziell⟩]
    Das Unvermögen, nach dem ersten Satz eines Textes fortzufahren; das Erstarren im Vorsatz, bevor das Eigentliche beginnt.
    übertragen: die Hemmung, einen Anfang zu wagen, aus Angst vor dem Fortgang.
    Beispiel: „Er litt an Vorwortstarre und schrieb zeitlebens nur erste Sätze.“

    Hemdenleid
    Substantiv, Neutrum [⟨umgangssprachlich, ironisch⟩]
    1. Die Vorgehensweise, ehemals passende, im Laufe der Zeit jedoch zu groß oder zu klein gewordene Oberhemden in eine zuvor unbekannte Reinigung zu geben, ohne die Absicht, sie jemals wieder abzuholen.
    2. übertragen: Das bewusste Aufgeben von Dingen oder Lebensabschnitten unter dem Vorwand einer Rückkehr, die tatsächlich nicht beabsichtigt ist.
    Beispiel: „Er litt sein Hemdenleid, indem er drei zu enge Kragen in der Reinigung verschwinden ließ.“

    Nachwortleere
    Substantiv, Femininum [⟨ironisch, reflektierend⟩]
    1. Die Erfahrung, das Nachwort eines Buches eher zu lesen als den Text selbst.
    2. übertragen: Das Umkreisen des Eigentlichen, ohne es zu erreichen.
    Beispiel: „Er kannte die Nachwortleere besser als die Handlung.“

    Bücherreue
    Substantiv, Femininum; Genitiv: -, Plural: -n [⟨gehoben, nachdenklich⟩]
    1. Das Wissen, ein gekauftes Buch nie zu lesen, und dennoch seinen Platz im Regal zu verteidigen.
    2. übertragen: die Last unerfüllter Möglichkeiten.
    Beispiel: „Vor dem Regal überkam sie ihre Bücherreue.“

    Schlusssatzwucht
    Substantiv, Femininum; Genitiv: -, Plural: -en [⟨poetisch, monumental⟩]
    1. Die Schwere des letzten Satzes in einem Roman, der das Gesagte beschließt und das Ungesagte öffnet.
    2. übertragen: die ganze Bedeutung eines Weggangs, verdichtet in einem einzigen Laut.
    Beispiel: „Die Schlusssatzwucht ließ das Buch noch lange geschlossen in seiner Hand liegen.“

    Erstsatzlast
    Substantiv, Femininum; Genitiv: -, Plural: -en [⟨poetisch, schwer⟩]
    1. Das Gewicht des ersten Satzes in einem Roman, der zugleich Anfang und Urteil ist.
    2. übertragen: die Bürde des ersten Wortes, das mehr verheißt, als es je einlösen kann.
    Beispiel: „Die Erstsatzlast legte sich schwerer auf ihn als das ganze Manuskript.“

    Türumschlag
    Substantiv, Maskulinum [⟨poetisch, szenisch⟩]
    1. Das Schließen einer Tür im Augenblick des Verlassens eines Menschen, das sich wie das Zuklappen eines Briefumschlags vollzieht – endgültig, versiegelt, nicht mehr zu öffnen.
    2. übertragen: Der Moment, in dem eine Begegnung zu einem abgeschlossenen Dokument der Erinnerung wird.
    Herkunft: Kompositum aus Tür und Umschlag; verweist auf die Analogie zwischen architektonischem und epistolarem Verschließen.
    Beispiel: „Der Türumschlag ließ das Zimmer leer zurück, als hätte ein Brief sich selbst versiegelt.“

    Aufzugsstille
    Substantiv, Femininum; Genitiv: -, Plural: -n [⟨poetisch, lakonisch⟩]
    1. Die eigentümliche Lautlosigkeit in einem Aufzug, die Menschen im engen Raum zu Fremden macht.
    2. übertragen: ein Schweigen auf engem Raum, das weder Nähe noch Distanz zulässt und wie eine kurze Unterbrechung der Zeit wirkt.
    Beispiel: „Die Aufzugsstille begleitete sie wie ein ungesagtes Wort.“