Halle (Saale), 14. September 2025 – F. Rentrop – Die Blicke fallen schwer, als legte man Gold auf einen Tisch voll Pokerchips.
Glanz ohne Wort, doch jede Bewegung trägt Gewicht – mehr als der Einsatz, mehr als der Gewinn.
Ein Augenpaar genügt, um den Raum zu kippen: kein Kartenblatt, nur ein Lächeln, das alles hält. – Ich staune über mich. Stets Automobilist – allein das Wort! Doch Auto stehen gelassen. Bahn genommen. Vom Ignoranten zum ICE-Liebhaber in drei Fahrten. Straßenbahnen mochte ich immer. Weil: dreißig Jahre zurück. Immer.
Im Zug dann: Zeit. Einfach da. Und mit ihr das Erschrecken. Vergänglichkeit. Dauer. Schweigen. Klang. Alles gleichzeitig. Alles sofort. Gefiltert durch AirPods. Als hätte Apple die Zeit als Playlist sortiert.
Erste Klasse in Selbstabschaffung. Letzte Geste: Becher. Flaschen. Tüten. Zurückgelassen im Ablagenetz. Wie Kommentare, die keiner schreibt. Aber jeder versteht. Menschen, die Abfall spielen. Sie proben die Rolle mit vollem Ernst. – Ein Satz verfolgt mich: „Socken, die man aus der Hand gibt, die Füße übernehmen.“ Geträumt. Vorgetragen wie vor der UNO. Im Traum unanfechtbar. Im Wachzustand nur Fragen. Also zehn Paar hellblaue Socken bestellt. Falls die Füße übernehmen. – Eine Freundin mit Bar-Jubiläum. Ich schrieb ein Gedicht. Ja. Wirklich. Für eine Bar. Und für sie. Seltsamer Ernst im Rausch der Gläser. – Zur Lektüre: The Fuck-Up. Arthur Nersesian. 2013 erstmalig gelesen. Kein bisschen nachgelassen. Stark. Richtig stark.
Ich lege ihn ins Ablagenetz. Offiziell „Magazinnetz“ genannt. Für mich: Literaturnetz. Vielleicht liest ihn jemand. Vielleicht bleibt er da. – Ich habe eine neue Begriffsminiatur:
Regenverzehrgenehmigung Substantiv, Femininum; Genitiv: -; Plural: -en [⟨poetisch, verspielt⟩] 1. Innere Erlaubnis, beim Kaffeetrinken im Café mehr zu bestellen – nicht aus Hunger, sondern mit der Begründung, dass gleich der Regen einsetzt und man dadurch Zeit gewinnt. 2. übertragen: Das stille Abkommen zwischen Himmel und Magen, dass Wolken den Appetit rechtfertigen – auch wenn sie sich am Ende oft verziehen. Beispiel: „Die Wolken hingen schwer, und ich erteilte mir selbst eine Regenverzehrgenehmigung: noch ein Stück Kuchen, während der Regen ausblieb – aus Respekt vor dem Regenbogen.“ – Klang des Tages: LTJ Bukem – Flip the Narrative
Rostock, 6. September 2025 – F. Rentrop – Zigarettenschachteln. Früher klein, Feuerzeug daneben. Jetzt riesige Pappziegel. Heute wirkt die kleine Packung wie Luxus. Aristokratie aus Karton. – Kurz nach meinem Umzug nach Halle hat mich in der Moritzburg ein Bild von Edvard Munch in Besitz genommen – Max Linde, 1904. Komplett. Es hat etwas mit mir gemacht, das wie Aufbruch wirkte. Kein Stillstand, kein Rückzug, sondern ein Drängen nach vorn. Und ich hatte vor, das Bild in meinen Besitz zu nehmen. Sprich: zu stehlen. Natürlich nicht ernsthaft, aber ernsthaft genug, dass ich den Gedanken mehrmals durchgespielt habe. Wäre auch schwierig geworden – allein schon wegen der Maße: 225 cm – und der Aufsicht. Idee: Einrollen? – und meines Charakters, wahrscheinlich. – Jetzt, kein Jahr später, sitze ich regelmäßig in Warnemünde. In dem Haus, in dem Munch gewohnt hat. Damals. Sitze da. Tue nichts.
Im Innenhof stand der Baum, unter dem Munch gesessen hat. Er musste gefällt werden. Zu alt, zu brüchig. Ein neuer ist gepflanzt. Noch dünn, noch schüchtern. Er wächst.
Und genau dann passiert das meiste. Wenn ich nichts tue. Wenn ich da sitze. Und alles trotzdem weiterläuft. – Ich schreibe weiter an Risslicht. Plündere meine alten Festplatten. Das digitale Äquivalent zu den Umzugskartons, die man nie auspackt. Und finde dort: mich selbst, Versionen, die ich schon vergessen hatte. Oder absichtlich verdrängt. – Ich habe eine neue Begriffsminiatur:
Echospiel Substantiv, Neutrum; Genitiv: -s, Plural: -e [⟨poetisch, intim⟩] 1. Das Hin- und Herschicken von Sprachnachrichten, nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus der Lust, Stimme und Schweigen in ein Spiel zu verwandeln. 2. übertragen: die Kunst, Nähe im Abstand entstehen zu lassen, indem jede Verzögerung wie ein Versprechen klingt. Beispiel: „Im Echospiel wurde das Warten selbst zum Teil der Verführung.“ – Klang des Tages: Nils Frahm - Fundamental Values
Rostock, 22. August 2025 – F. Rentrop – Heute: am Wasser, wie immer. Südlich der Neptun-Werft. Neptun-Werft: Schiffe entstehen. Ich: Gedanken entstehen. Beide müssen schwimmen.
Die Werft: 175 Jahre alt. Ich: 203 Tage. Eine Zählung, die nichts will und trotzdem Gewicht hat. – Mio Mio Mate Zero. Pepe Zigaretten. Das stille Inventar. Das Protokoll.
Dann: eine WhatsApp-Sprachnachricht gelöscht. Bewusst. Endgültig. Ein Verlust, den ich selbst wollte – und sofort nicht mehr wollte.
Unwiederbringlich. Schwer. – Und damit ein neues Gefühl. Scharf umrissen, kaum greifbar: Löschklarheit.
Ein Wortstück, das sich den anderen Miniaturen anschließt:
Löschklarheit Substantiv, Femininum; Genitiv: -, Plural: -en [⟨poetisch, melancholisch⟩] 1. Der Moment bewusster Entscheidung, eine digitale Spur (Nachricht, Bild, Erinnerung) zu tilgen, in der Überzeugung, dass dies Befreiung bringt. 2. Das unmittelbare oder verzögerte Bedauern über den unwiderruflichen Verlust dieser Spur, die eine emotionale oder existenzielle Bedeutung hatte. 3. übertragen: Jeder Akt des absichtlichen Loslassens – von Menschen, Orten, Erinnerungen –, der von einer plötzlichen Sehnsucht nach dem Verlorenen begleitet wird. Beispiel: „Die Löschklarheit dauerte nur einen Moment: Die Nachricht war verschwunden, die Sehnsucht nach ihr begann sofort.“ – Klang des Tages: Portishead - The Rip
Rostock, 20. August 2025 – F. Rentrop – Bin da reingestolpert, damals, in diese Designagentur. Reingestolpert – und aufgenommen. Gut aufgenommen. Besser, als man das eigentlich erwartet. Großzügig. Selbstverständlich: geteilte Imagination. – Ich wusste nichts. Ich konnte nichts. Ich wollte alles. – Und da warst du.
Fotografie: von dir gelernt, dass das wirklich Licht ist, nicht Technik. Ein Moment, eingefangen, als würde man eine Sekunde zum Leuchten zwingen. – Und Musik: von dir Jazz. Treibend seitdem. IPA: [jat͡sː] ~ Der Bass redet mit. Nicht Begleitung. Kein Hintergrund. Gespräch. Bass gleich Rhythmus. Ein zweiter Puls. Manchmal schneller als man selbst. Gerade dann wenn er langsam läuft. ~ Kunst also. Alles. Und ich – sofort fasziniert. Natürlich. ~ Gespräch mit dir in einem frischen Neujahr: ich / sie: – Bruch unausweichbar.
Dann hast du mir ein Instrumental geschickt. Einfach so. Als mich Rat nicht mehr erreicht hat. Aber deine Musik.
Und bis heute macht es mich leicht dieses zu hören. (Das passiert selten. Dass etwas leicht macht.) ~ Guter Mensch. Guter Künstler. In dieser Reihenfolge. In dieser Gewichtung. Und: Vorbild.
Rostock, 17. August 2025 – F. Rentrop – Kein Vorsatz. Kein Kalenderspruch. Nur: Eine, die blieb. Oder bleiben wollte. Ein Zeit. Ein Jetzt. Dann: Ein Abend. Mehr war’s nicht. Oder alles. Wer weiß das schon. – So viele Jahre: Alkohol – täglich. Klar. Eine Dekade als Soziotest. Alles mitgenommen.
Aber das war nur der Ton. Die Melodie lag woanders. Versteckt. Darunter: Zurückhaltung. Traurigkeit. Isolation.
Geistiger und körperlicher Verfall. Du weißt schon. Das ganze Set. Alkohol sucht eben.
Täglich? Bitte. Das war keine Abhängigkeit, das war Konzept. Kunst. Schmerz. Dreckig schön. Verloren oft. Verliebt nie nüchtern. Aber verliebt. – Dann – Ende Januar.
Ein Mädchen. Szene davor? Unwichtig – aber sie war’s. Wirklich. Sie. Zu nah. Zu wahr. Herz ruft, Kopf schweigt. Bleiben? Unmöglich. Kein Bruch, nur Stille. Ein Schritt zurück, der sticht. Ich geh. Sie bleibt.
Szenenwechsel: Spontan. Nicht geplant. Aber dringend. – Ich bin auf Station. Sicher.
Trinken – unmöglich.
Morgens aufwachen ohne diesen Dialog mit mir selbst, der dann eh wieder endet in „Na gut, dann halt viel Whiskey. Noch mehr. Morgen trinke ich dann nicht.“ – Drei Wochen. Klinikleben. Tee statt Pegel. Gruppe statt Kneipe. Zirkeltraining für die Seele. Und ich so: Okay, dann eben Wunderheilung. Also: Akzeptanz. – Seitdem: trocken.
Mehrere Monate jetzt. Ich zähle nicht mit – was ich selbstredend mache – aber ich weiß: ich bin klar. ich erlebe jetzt anders. Ohne Filter. Ohne Pegel. Manchmal härter. Aber echter.
Mehr, als ich verdient hab. Oder geglaubt hätte. – Ich hab getrunken, um nicht zu verlieren. Jetzt verliere ich, und weiß wieder, dass es was bedeutet hat. – Jetzt: Ostsee. 13 Wochen Rehabilitation – das heißt hier: „Suchtentwöhnung“.
Klingt wie: Ich hätte mir das alles angewöhnt.
Wie Rauchen. Oder Klavierspiel. Oder sich verlieben.
Alkohol war eine ernste Beziehung. Kein schlechter One-Night-Stand.
Jetzt also ent-wöhnen. Bitte. Ich war nie ge-wöhnt – ich war komplett drin.
Und: Meer Wenigstens das bleibt real – Geist: vital. Körper: auch.
Nicht ausblenden. Nicht bereuen. Einfach: begriffen. – Ich schaffe das. Bin mir sicher. Und: Ich. Will. Nie. Wieder. Trinken. – Menschen. In meinem Leben: Viele. - Kurz da. - Lang da.
Versteh ich nicht. Aber: find ich schön.
Und: Lien Attentif. Menschen, die dich halten, ohne zu greifen. Nicht geplant. Nicht gesucht. Nur da. Wie ein Versprecher, der plötzlich stimmt. – Und das ist der Stand. Nicht am Anfang. Nicht am Ende. Aber: mittendrin. – Klang des Tages: Seeed - Ticket